von Dr. Thomas Liesemann
In der 7. Klasse wurde für die Eltern erkennbar, dass Jan nur mit Mühe zum Erledigen seiner Schulaufgaben zu bewegen war. In ihrer Einschätzung musste jetzt etwas geschehen, damit der Junge nicht zu einem Schüler wurde, der seinen Lehrkräften vor allem durch Stören im Unterricht und unerledigte Hausaufgaben auffällt. Jan hatte das Glück, dass sich seine Eltern weniger für seine Noten, aber umso mehr für sein tatsächliches Lernen interessierten. Sie erkundigten sich bei den Schulen im Umkreis und so kam es, dass Jan schließlich an die Hohen Landesschule wechselte. Die Schule ist seit 2006 berechtigt, das Gütesiegel des Hessischen Kultusministeriums als Nachweis der hier erbrachten Anstrengungen zur Förderung begabter Schülerinnen und Schülern zu tragen. Der Wechsel sollte sich lohnen, denn es dauerte kein Jahr, bis Jans Interesse für Mathematik und die naturwissenschaftlichen Fächer wiederbelebt war. Mittlerweile ist der Schüler in der Q4-Phase angekommen und hat gerade die schriftlichen Abiturprüfungen absolviert. Seit über einem Jahr fährt er einmal in der Woche zu Seminarveranstaltungen an der Goethe-Universität in Frankfurt.
Dass Menschen in unterschiedlichem Tempo lernen und dass sie zu unterschiedlichen Formen der Gründlichkeit neigen, bestreitet heute eigentlich niemand mehr. Trotzdem ist es für Lehrer in einer Klasse von annähernd 30 Lernenden immer wieder eine Herausforderung, möglichst allen gerecht zu werden. Meist orientiert man sich an der verpflichtenden Vereinbarung des schulischen Curriculums und hofft, dass dieses Pensum optimal auf die Fähigkeiten und Möglichkeiten möglichst vieler junger Menschen abgestimmt ist. In den meisten Fällen trifft dies zu. Was aber, wenn man schneller begreift als die anderen? Oder wenn man den Stoff mit Leichtigkeit erinnert, den andere nach tagelangem Lernen noch nicht sicher beherrschen?
Weil besondere Begabung nicht selbstverständlich zum erwünschten Erfolg führt, haben Schulen seit einigen Jahren besondere Programme entwickelt, um besonders anspruchsvolle Schülerinnen und Schüler in angemessener Weise zu fördern. Zu diesen Schulen gehört auch die Hohe Landesschule. Zwei ihrer Schüler und eine Schülerin haben neben der Schule schon mit dem Studium begonnen. Die Goethe-Universität in Frankfurt ermöglicht Schülern im Rahmen eines Frühstudiums die Möglichkeit, sich an einem halben Tag der Woche vom Unterricht befreien zu lassen, um bereits an akademischen Veranstaltungen des Grundstudiums teilzunehmen. Sie nehmen es dabei auf sich, den während ihrer Abwesenheit verpassten Unterrichtsstoff eigenverantwortlich nachzuholen, denn sie sind nach wie vor verpflichtet, alle Klausuren mitzuschreiben und gute schulische Leistungen zu erbringen.
Trotz dieser Doppelbelastung sind die Erfahrungen der drei begabten Holaner durchweg positiv. So schreibt Per Pohlmann, der schon im 3. Semester an der Frankfurter Uni Mathematik studiert: „Nicht nur lernt man die Räumlichkeiten der Universität kennen, man wird wie ein „echter Student“ behandelt, muss somit in den Vorlesungen genauso aufpassen und bei den Übungen das gleiche leisten. Dies ermöglicht einem Schüler Einblicke, die man selbst an jedem Tag der Offenen Tür an einer Universität nicht erhält, da ein Schülerstudium gewissermaßen die „vollständige Realität“ eines Studiums enthüllt.“
Allein daran lässt sich ermessen, dass ein Schülerstudium nicht nur eine Auszeichnung ist, es bedeutet vor allem die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Jan Henning, von dem eingangs die Rede war, meint dazu, „Die Vorlesungen habe ich so gewählt, dass der Unterrichtsausfall so gering wie möglich blieb, und ich den Schulstoff so leicht nachholen konnte.“
Die Hohe Landesschule versucht dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Die hier unternommenen Anstrengungen zur Förderung hochbegabter Schülerinnen und Schüler wurden bereits 2006 seitens des Ministeriums bestätigt. Seitdem gehört die Schule zum Verbund von Gütesiegel-Schulen im Main-Kinzig-Kreis. Damit einher ging die Entwicklung eines sensiblen Diagnose-Systems, wie auch die Bereitschaft seitens der Lehrkräfte, besondere Anstrengungen bei der pädagogischen Begleitung der begabten Schülerinnen und Schüler auf sich zu nehmen. Dennoch stößt Schule, insbesondere in der gymnasialen Oberstufe, auch an ihre Grenzen, sodass sich die betreuenden Lehrkräfte fragen, ob es noch bessere Möglichkeiten der Förderung für Hochbegabte gibt. Der parallele Besuch der Universität bietet hier einen Weg: „Das Schülerstudium hat mir sehr viel weitergeholfen, da ich mich auch im letzten Teil meiner Schullaufbahn aufgrund des meist langsamen Unterrichtstempos und der häufigen Wiederholungen oft langweile. In den Vorlesungen hingegen wurde der Stoff sehr viel schneller behandelt und ich wurde herausgefordert.“ Für einen Schüler wie Jan bietet das Frühstudium eine Alternative, die seinen Fähigkeiten keine vorzeitigen Grenzen zieht.
Darüber hinaus wird Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geboten, sich bereits in Bezug auf die Wahl ihrer Studienfächer abzusichern. Die Folge ist, dass sie schneller wissen, welches Fach für sie das Richtige ist, wie Jan erklärt: „Das Schülerstudium [ist] für mich persönlich eine große Hilfe, da ich während der Chemievorlesungen merkte, dass mir Chemie weniger gefiel, als ich anfangs dachte und ich meinen Studienwunsch von Chemie auf Physik änderte. So musste ich nicht erst einige Semester im „richtigen“ Studium verlieren, um mich für mein Traumfach zu entscheiden.“
Wenn eine Schule ihren Schülern hilft, ein Frühstudium an einer Universität zu beginnen, zeigt dies, dass man es ernst meint mit der Förderung von Begabung. Schließlich profitiert jede Schule von ihren leistungsstarken Schülern. Ihre Motivation ist besonders groß und sie heben das Niveau in den Kursen, an denen sie teilnehmen. Trotzdem lohnt es sich, wenn eine Schule bestrebt ist, das Optimum für ihre Schüler zu erreichen und ihnen den frühen Besuch der Universität ermöglicht. Ihre wöchentlichen Ausflüge an die Universität lassen Schüler mit geschärftem Verständnis an die Schule wiederkehren. Und sie geben auch etwas von dem zurück, was sie zunächst als eine Art Vorschuss erhalten haben.
Schüler sollen sich darauf verlassen können, dass Schule ihnen zum Erkennen und Wahrnehmen ihrer Begabung verhilft. Sie tragen ihrerseits dazu bei, dass Schule zu dem Ort wird, an dem das Lernen in seiner bestmöglichen Form geschieht.
Gruppenfoto der Holaner, die das Frühstudium parallel zur Schule wahrnehmen.